Erschienen am 28. Dezember 2009


Keine Experimente

Warum heute wieder viele Webseiten genauso aussehen wie vor 15 Jahren

Es ist noch genug zu tun für die Putzkommandos im World Wide Web, aber schon jetzt haben sie auf den wichtigsten Webseiten – denen, die Google listet – ganze Arbeit geleistet. Sie sammeln einzelne Buttons ein, um sie zu Navigationsleisten zusammenzusetzen, sie rücken Spalten zurecht, vergrößern die Schrift und verschieben auch noch das letzte Gimmick in den Papierkorb. Wo vorher eine bunte, verwirrende Wunderwelt wucherte, sieht jetzt alles ordentlich und übersichtlich aus, und dazwischen ist viel Platz auf schneeweißen Flächen. Es sind die Webdesigner, die seit Jahren im Internet aufräumen, was sie selbst einmal erschaffen haben. Manchen von ihnen schmerzt es, wenn sie ihre mühsam erstellten Flash-Animationen wieder löschen müssen, doch auch sie haben offenbar den allseits propagierten Regelkatalog für „gutes Webdesign“ auswendig gelernt: einfache Navigation, klare Hierarchien, Lesbarkeit, Übersichtlichkeit, Verständlichkeit, Schnelligkeit. Das ernüchternde Ergebnis nach 15 Jahren Webdesign: Die meisten Seiten sehen irgendwie gleich aus. Abgesehen von ein paar Farben ist oft der größte Unterschied, dass die Navigationsleiste nicht links, sondern rechts steht. Im Online-Universum breitet sich Langeweile aus. Und doch ist der ungebremste Erfolg des Internets auch ein Erfolg der Selbstkasteiung der Webdesigner, die lange als die Könige der Effekthascherei verschrien waren. „Der visuelle Aspekt war total überbewertet“, sagt heute der Berliner Webdesigner Jan Rikus Hillmann, einer der Gründer des Magazins De:Bug. „Es geht viel eher darum, flexible Systeme zu entwickeln.“ Eine Art Metastruktur, die jederzeit mit neuen Texten, Bildern und Videos gefüllt werden kann und die schnelle, flüssige Interaktion möglich macht. Nichts soll dem Nutzer mehr im Wege stehen, und so tritt das Webdesign scheinbar neutral und unsichtbar hinter den Inhalt zurück.

Manche Seite sieht schon fast wieder so aus wie vor 15 Jahren, als alles anfing. Damals, im Dezember 1994, kam der Netscape-Browser auf den Markt, der die Entwicklung des bis dahin völlig ungestalteten World Wide Web erst so richtig in Gang brachte. Denn er war nicht nur für nicht-kommerzielle Nutzer kostenlos, sondern funktionierte auf Windows-PCs auch genauso wie auf Macintoshs. Zum ersten Mal konnte man nun die Schrift- und die einheitsgraue Hintergrundfarbe ändern und Bilder in die Textrahmen einbauen. Und der Netscape Navigator konnte eine Seite darstellen, noch während sie geladen wurde, ebenfalls eine Innovation. Das war auch der Zeitpunkt, als die ersten Designer einstiegen. Bis Jahresende 1994 stieg die Zahl der Webseiten auf 3000, heute sind es mehr als 230 Millionen. Wie sehr sich die Wahrnehmung des Mediums Internet in diesen 15 Jahren verändert hat, kann man anhand der Geschichte des Webdesigns sehr gut nachverfolgen: Wer in den neunziger Jahren seine Nächte online verbrachte, der schaute noch staunend auf den Bildschirm. Er gab eine URL-Adresse ein und bewegte sich, oft durch Zufall, über verschiedene Links ganz woandershin, wo jedes Mal neue grafische Überraschungen und Animationen zu erleben waren. Nicht umsonst war die zentrale Metapher für das Internet dieser Anfangsjahre eine räumliche, der Cyberspace – und ihr visueller Ausdruck, der Blick in die sternenklare Nacht, der beliebteste Hintergrund für Webseiten. Die Designer verbrachten damals zum Beispiel viel Zeit mit der Frage, wie sie die durchs Web surfenden Betrachter mit einer besonders ausgeklügelten Startseite auf eine Webseite locken konnten. Heute sind solche Intros überflüssig, sogar lästig. Sie verstellen den Blick auf das Wesentliche, den Inhalt. Denn inzwischen ist aus dem Internet ein Kommunikationsmedium geworden, das nicht mehr nur betrachtet, sondern vor allem genutzt wird. Und die Nutzer wollen intuitiv und auf schnellstem Wege dorthin gelangen, wo sie sich mit anderen austauschen, sich informieren, einkaufen oder selbst Inhalte einstellen können. Ständig online zu sein ist zu ihrem Alltag geworden, sie suchen nicht mehr nach dem magischen Moment wie in der Anfangszeit. Die Euphorie ist verflogen, und auch sonst ist aus den neunziger Jahren nicht viel übriggeblieben im Web. Zu den wenigen gehören Dienste wie Amazon und Ebay, die von Beginn an einen einfachen Rahmen für Interaktionen bereitstellten und Nutzungsgewohnheiten prägten, die heute selbstverständlich sind.

Geblieben ist auch der schlechte Ruf der Webdesigner. Zu lange waren sie damit beschäftigt, die Gestaltung von gedruckten Magazinen, Marketing-Broschüren und Anzeigenmotiven einfach auf statische Webseiten zu übertragen, ohne dass sie die Dynamik des neuen Mediums erkannten. Und jedes neue Feature, das die neuen Versionen von HTML, Flash, Netscape Navigator und Internet Explorer in den neunziger Jahren hergaben, brachten sie sofort in ihren überflüssig überladenen Entwürfen unter: Überblendungseffekte, blinkende Texte, rotierende Logos, Pop-ups. Die Internet-Euphorie erfasste Informatiker, Künstler, Umgeschulte, Studenten und Quereinsteiger, die sich nach drei Wochen Abendkurs stolz „Webdesigner“ nannten und aberwitzige Honorare verlangen konnten. Das goldene Zeitalter des Webdesigns versprach beides: gutes Geld und alle gestalterischen Freiheiten. Netzkünstler wie Jodi.org, die die Grenzen des Mediums austesteten, seine Codes sichtbar machten und dekonstruierten, fanden große Beachtung. Dennoch ist es bezeichnend, dass sich bis heute kein Webdesigner einen Namen gemacht hat, der über die Szene hinaus bekannt ist. Zu tief war wohl der Einschnitt, den die geplatzte Dotcom-Blase hinterließ. Die Branche erholte sich erst wieder, als die Netzwerke, Plattformen und Blogs des Web 2.0 eine neue Euphoriewelle auslösten.

Die neuen interaktiven Formate haben auch das Webdesign entscheidend verändert und vor allem vereinheitlicht. Stilistische Phänomene des Web 2.0 wie die bonbonbunten Farben, die riesigen Überschriften, abgerundete Kanten, Schlagschatten und Glanzeffekte sind nicht zu übersehen, signifikanter ist jedoch die fortschreitende Systematisierung der Gestaltung. Das Gerüst von Foren und Plattformen wie Facebook, Flickr und Youtube sieht auf jeder Seite gleich aus, damit die Nutzer sie selber mit ihren Texten Bildern und Videos füllen und individualisieren können. Ein Prinzip, das sich inzwischen auf große Teile des Webs ausgebreitet hat. Viele Designer übertragen sogar die minimalistische Blog-Ästhetik mit ihren Spalten zum Scrollen auf die anderen Webseiten. Wo aber bleibt dann noch Raum für Experimente, wenn sich solche Standards immer mehr durchsetzen? Man muss ihn suchen, vielleicht besser nicht mit Google. Wichtige Inspirationsquellen wie die Netzkunst und die von Amateuren gestalteten Webseiten gehen allmählich verloren, weil viele Privatleute ihre Homepage durch Auftritte in speziellen Plattformen oder ein Profil bei Facebook ersetzen. Erst vor ein paar Monaten wurde GeoCities, in den neunziger Jahren der beliebteste Homepage-Anbieter weltweit, ganz eingestellt. „Die Amateurkultur muss erhalten werden“, findet Dragan Espenschied, Dozent an der Stuttgarter Merz Akademie, der sich seit Jahren mit abseitigen Seiten und Retrobewegungen im Web beschäftigt. Andere versuchen, bestimmte Strukturprinzipien des aktuellen Web wie Schlagwortwolken (tag clouds) Landkarten und Listen aus dem System herauszulösen und daraus eigene Systeme zu entwickeln – ein vielversprechender Ansatz.

Wer sich die ganze Arbeit sparen möchte, kann sich immer noch den minimalistischsten und dazu noch elegantesten aller digitalen Baukästen kostenlos herunterladen. Das von dem britischen Designer Daniel Eatock und dem Programmierer Jeffery Vaska entwickelte Content Management System Indexhibit ist derart beliebt bei Grafikdesignern und Designmagazinen, dass schon wieder die Vereinheitlichung droht. Es besteht aus nichts als einer einfachen Navigationsleiste links und viel Platz für Bilder und Texte rechts. Meistens bleibt auf den damit entstandenen Portfolio-Seiten so viel Weißraum übrig, dass es in den Augen sticht. So weiß ist sonst kein White Cube.

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